Die Gemarker Kirche: Ort der Begegnung und der Bildung
Am 31. Mai 1934
veröffentlichten Mitglieder der Bekennenden Kirche die „Barmer Theologische
Erklärung“. Damit setzten sie ein Zeichen des Widerstands gegen die
erstarkenden Nationalsozialisten. Heute ist die Erklärung weltweit bekannt und
zählt zu den wichtigsten Schriften des Protestantismus. Was aber bedeutet es,
an einem historischen Ort wie diesem zu leben und zu arbeiten? Um Antworten auf
diese Fragen zu finden, luden die Kirchliche Hochschule Wuppertal und der
Evangelische Kirchenkreis Wuppertal benachbarte Organisationen aus Bildung,
Kultur, Religion, Politik und Wirtschaft am 31. Mai 2022 zu einem wegweisenden
Gespräch in die Gemarker Kirche ein.
Vor rund einem Jahr nahm Jana Beck ihre Tätigkeit als Lehrerin für
Geschichte, Religion und Philosophie am Gymnasium Sedanstraße im Wuppertal auf.
Was sie sofort begeisterte: Das Lehrerzimmer eröffnete ihr den unmittelbaren
Blick auf die Synagoge und die Gemarker Kirche in der Innenstadt von Barmen –
beide Gebäude liegen talabwärts nur rund 200 Meter von der Schule entfernt.
„Dieses Bild musste ich sofort meinen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen
schicken“, erinnert sie sich. „Denn an diese Gebäude kann ich in meinem
Unterricht unmittelbar anknüpfen.“
„An diese Gebäude
kann ich in meinem Unterricht unmittelbar anknüpfen.“
Diese Anekdote war eine von vielen, die es auf der Veranstaltung zu hören
gab, zu der die Kirchliche Hochschule Wuppertal (KiHo) und der Evangelische
Kirchenkreis Wuppertal am 31. Mai 2022 benachbarte Organisationen aus Bildung,
Kultur, Religion, Politik und Wirtschaft
geladen hatten. Neben den Moderatorinnen Prof. Dr. Konstanze
Kemnitzer, Rektorin der KiHo, und Barbara Herfurth, Leiterin des
Ausstelungsprojektes „Gelebte Reformation. Barmer Theologische Erklärung“
nahmen Dr. Salvador Oberhaus (Förderverein Konsumgenossenschaft „Vorwärts“
Münzstraße e.V.), Thomas Helbig (Immobilien-Standort-Gemeinschaft ISG
Barmen-Werth), Leonid Goldberg (Jüdische Kultusgemeinde Wuppertal), Jana Beck
(Städtisches Gymnasium Sedansberg) sowie Suzan Öcal (Stadt Wuppertal) auf dem
Podium teil.

Mit ihrer
Kooperation wollen die Kirchliche Hochschule Wuppertal und der Evangelische
Kirchenkreis Wuppertal regelmäßig an die Bedeutung der Barmer Theologischen
Erklärung vom 31 Mai 194 erinnern.
Datum und Ort der Veranstaltung gingen auf die Veröffentlichung der Barmer
Theologischen Erklärung (BTE) am 31. Mai 1934 in der Gemarker Kirche zurück.
Die BTE ist ein Schlüsseltext für den deutschen und den weltweiten
Protestantismus, mit dem sich die Bekennende Kirche gegen die Vereinnahmung von
Kirche und Christentum durch die Nationalsozialisten wehrte und ein Zeichen des
Widerstands setzte. 139 Delegierte aus ganz Deutschland formulierten an diesem
Ort sechs Thesen, in denen sie ihr Bekenntnis zu Gott und zum evangelischen
Glauben zum Ausdruck brachten.
Was lässt sich aus
der Geschichte dieses Ortes lernen?
2021 hatten die KiHo und der Kirchenkreis – ebenfalls in der Gemarker Kirche
– einen Kooperationsvertrag unterzeichnet – mit dem Ziel, regelmäßig an die
Bedeutung der BTE für Geschichte und Gegenwart zu erinnern. In diesem Jahr
sollte das erstmals stattfindende Nachbarschaftsgespräch neue Ideen und
Erkenntnisse zur BTE bringen. Was bedeutet es, im Umfeld eines historisch so
bedeutsamen Ortes zu arbeiten? Was lässt sich aus der Geschichte dieses Ortes
lernen? Wo liegt seine Relevanz für Wuppertal und darüber hinaus? lauteten die
Leitfragen der Veranstaltung, die rund 30 Besucherinnen und Besucher fand.
Vor Beginn des Gesprächs führte Barbara Herfurth die Teilnehmerinnen und
Teilnehmer durch die Ausstellung, einige besuchten diese zum ersten Mal. Auf
dem Podium waren sich anschließend alle einig, dass die Ausstellung für die
lokale Bildungsarbeit Bedeutendes leisten kann.
Die Geschichte
Wuppertals anhand von Geschichten erzählen
Thomas Helbig schrieb der Gemarker Kirche zu, die Identität von Barmen durch
das historische Alleinstellungsmerkmal der BTE zu stärken. Oberhaus betonte,
dass Orte wie diese helfen, um Menschen gegen menschenfeindliche Gesinnungen zu
immunisieren und sie dazu motivieren, sich stärker an politischen Prozessen zu
beteiligen. Laut Öcal sei diese Kirche in der Lage, Menschen zu berühren und
Identität zu stiften, weil man hier die Geschichte Wuppertals anhand von
Geschichten erzählen könne, die genau hier geschehen sind. Goldberg unterstrich
die Bedeutung des Ortes für die Vermittlung von Wurzeln und Werten. Beck hob
schließlich hervor, dass die Gemarker Kirche ein hervorragender Ort sei, um die
politische Dimension von Religion aufzuzeigen – sofern sie in der Lage ist,
Widerstand zum Beispiel gegen Diktaturen zu organisieren und zu leisten.
Diese Potenziale werden auch dem Ulle-Hees-Denkmal zugeschrieben, das am
27.Mai 1984 auf dem Werth/Ecke Rödergasse aus Anlass des 50. Jahrestages
der BTE in Sichtweite der Gemarker Kirche enthüllt wurde. Die Bronzeskulptur
zeigt zwei Gruppen von Menschen: die einen zeigen den Nazi-Gruß, während die
anderen sich um die Bibel, versammeln und in Richtung Gemarker Kirche blicken.
Denkmal nach!
Bürger*innenbefragung am Ulle-Hees-Denkmal
Eine Woche vor dem Nachbarschaftsgespräch, hatten KiHo und Kirchenkreis
Passant*innen in der Barmer Fußgängerzone gefragt, welche Rolle das Denkmal
zukünftig spielen solle – vor allem im Hinblick auf die Tatsache, dass die
Fußgängerzone ab 2023 umgebaut werden soll. Die spannenden und vielfältigen
Reaktionen zeigt dieses Video.
Herfurth und Kemnitzer hatten aktiv an der Befragung rund um das
Ulle-Hees-Denkmal teilgenommen und dabei festgestellt, dass das Denkmal vor
allem für junge Menschen nicht mehr in jedem Fall selbsterklärend sei.
Kemnitzer schilderte die Reaktion eines 14-Jährigen, der vehement dafür
plädierte, das Denkmal abzureißen, weil die Menschen dort ja den Hitlergruß
zeigten. „Diesem Jugendlichen war offenbar nicht klar, dass das Denkmal ja im
buchstäblichen Sinne auch eine andere Seite zeigte“, erzählte sie. „Hier wird
die eigentliche Botschaft des Denkmals nicht mehr richtig verstanden.“
QR-Code für die
Information und Sitzgelegenheiten zum Verweilen
Im Nachbarschaftsgespräch warf sie daraufhin die Frage auf, wie sich
Bildungsarbeit rund um die Gemarker Kirche und die BTE verändern sollte, um
künftig noch mehr Potenzial zu entfalten. Auf und vor dem Podium trugen die
Anwesenden ihre Ideen zusammen: angefangen bei dem Vorschlag, die Thesen der
BTE immer wieder neu zu lesen und die politische Rolle von Religion zu
diskutieren, bis hin zu dem Vorschlag, das Ulle-Hees-Denkmal nahbarer zu
machen. „Warum installiert man rund um das Denkmal nicht einen QR-Code, mit dem
sich alle Informationen rund um das Denkmal per Smartphone abrufen lassen, und
Sitzgelegenheiten, die zum Verweilen einladen?“, meinte ein Teilnehmer. „Durch
eine gezielte Beleuchtung ließe sich die Aufmerksamkeit für das Denkmal
ebenfalls steigern.“
Einig waren sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer darin, dass die
Bildungsarbeit künftig nicht nur Schülerinnen und Schüler adressieren sollte,
sondern auch jene Menschen, die neu nach Wuppertal kommen: aus beruflichen oder
familiären Gründen oder weil sie vor Krieg und Zerstörung aus ihrer Heimat
fliehen. „Warum führen wir nicht auch die Flüchtlinge in Wuppertal an diesen
Ort?“, regte Goldberg an, der selbst 1977 nach Wuppertal kam und viele Jahre
nichts über die BTE wusste. „Damit könnten wir ihnen sehr schnell sehr viel
über die Stadt erklären, in der sie für unabsehbare Zeit leben.“
„Warum führen wir
nicht auch die Flüchtlinge in Wuppertal an diesen Ort?“
Zum Zeitpunkt des Nachbarschaftsgespräches lebten rund 4.400 Menschen in
Wuppertal, die vor den Folgen der russischen Invasion aus der Ukraine
geflüchtet waren. Vor diesem Hintergrund regte Goldberg an, diese Menschen
vermehrt durch die Ausstellung zu führen. „Rund um die Gemarker Kirche könnten
sie schließlich viel darüber erfahren, welche Erfahrungen die Menschen in
Deutschland einst mit Diktatur, Rassismus, Krieg und Zerstörung machten“, sagte
er. Die Barmer Innenstadt könnte damit ein wichtiger Ort für Bildung, Begegnung
und gegenseitiges Kennenlernen werden.
Nachbarschaftsgespräch
in der Gemarker Kirche: Was bedeutet es, an einem historischen Ort wie diesem
zu leben und zu arbeiten?